Sehr geehrter Herr Dr. Voßkuhle,
das
Bundesverfassungsgericht ist wahrscheinlich der größte
Entwicklungsschritt, den die Menschheit zu ihrer
Selbstfindung bisher gemacht hat.
Für Sie als Richter° ist es eine Selbstverständlichkeit, dass
die Begründung eines Urteils ein
WOZU erfordert.
Juristen sprechen im Geschäftsverkehr von einer
'Anspruchsgrundlage'. Verfassungsrichter
beziehen sich auf unser
GrundGesetz.
Was der Philosophie und den meisten Bürgern nicht bewusst ist,
ist, dass ein
WOZU erforderlich ist, um
entscheiden zu können.
Die Philosophie hat es bisher nicht gewagt, sich mit der
Theologie auseinanderzusetzen. Sie sitzen beide noch
in dem Boot, aus dem Galilei aussteigen wollte.
Weil die Philosophie dies bis heute nicht gewagt hat, konnte
sie sich weder zu einer Wissenschaft entwickeln noch zur
Grundproblematik des Verstehens Entscheidendes beitragen.
* * *
Wir Menschen haben noch nicht erkannt:
Die Grundlage der Evolution ist
die Freiheit des Sich-Miteinanderverknüpfens
Es ist diese
Freiheit eines Sich-Miteinanderverknüpfens,
die es möglich gemacht hat, dass unser Universum
entstehen und sich entwickeln konnte.
Diese Freiheit macht Entscheidungen über
das
Wie des Miteinanders notwendig.
Diese Entscheidungen sind im Laufe unserer Entwicklung
immer mit der Gewalt des Stärkeren gelöst worden.
Was früher - und auch heute noch - bedeutete
o ein Unterwerfen Anderer mit Waffengewalt oder
o ein Willfährig-machen durch "Brot und Spiele"
Die Exekutive würde auch heute noch gerne die Judikative
zu ihrem Werkzeug machen. Was in den meisten Staaten
der Welt auch Realität ist, kann man als Wunsch auch
in unserer Republik beobachten:
Die Dokumentation des ZDF
https://www.zdf.de/dokumentation/dokumentation-sonstige/auftrag-gerechtigkeit-100.html
zeigt auf, dass dieser Wunsch zu Beginn unserer Republik bestand,
zum Beispiel bei Konrad Adenauer und Herbert Wehner und
auch heute noch besteht, zum Beispiel bei Norbert Lammert,
der lange, von 2005 bis 2017, Präsident des Bundestages war.
Als sachhaltig erscheint sein Argument, dass Weiterentwicklungen
des Grundgesetzes Sache des Gesetzgebers seien:
Es klingt funktional/sinnvoll, wenn man argumentiert,
dass alle Macht vom Volke ausgeht und das Volk
seine Macht auf das Parlament übertragen habe.
Nur:
o Das Volk ist bis heute nicht
selbstbestimmt aufgewachsen,
hat also in seiner Mehrheit nicht gelernt,
selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen.
o Die "Spielregeln", die sich die Gesellschaften -weltweit-
geschaffen haben, funktionieren nach dem
Prinzip von "Brot und Spiele".
o Der Einfluss der Lobbyisten auf die Legislative,
die Abgeordneten des Volkes, ist übermächtig.
o Ein Abgrenzen der Funktionalitäten
o in Legislative, Judikative und Exekutive, oder
o in Wissenschaft und Handeln
ist nicht wirklich möglich.
o Die Fortentwicklung des Rechts des Miteinanders
muss geschützt werden vor
o demagogischen Angriffen auf die Freiheit des Einzelnen
o und vor einer Verlagerung von
Entscheidungsbefugnissen und Verfügungsrechten.
Dies können Parlamente
nicht leisten. Von einer real-
gesellschaftlichen Demokratie sind wir noch weit entfernt :::
* * *
Die
erste Erkenntnis ist die Einsicht, dass echte Demokratie
eine breite Gewaltenteilung erforderlich macht.
Und dazu gehört auch, dass jene, die die
Sachkunde und die Lebenserfahrung besitzen,
die Regeln des Miteinanders fortentwickeln und zwar
auf der Basis der realgegebenen Freiheit jedes Einzelnen.
Die
zweite Erkenntnis ist die Einsicht, dass echte Demokratie nur
entstehen kann, wenn die Heranwachsenden in Selbstbestimmung
aufwachsen und so zu entscheidungsfähigen und selbstbestimmten
Einzelnen einer Mehrheit von Einzelnen werden.
Und die
dritte grundlegende Erkenntnis ist, dass jene,
die übergeordneten Regeln des Miteinanders verfassen, nicht
mit-entscheiden dürfen, wenn sie von den Regeln betroffen sind.
* * *
Wir Menschen haben noch große Probleme, das Geschehen,
in dem wir leben, zu verstehen.
Dies wird besonders deutlich in der Rede von Norbert Lammert im
Festakt zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes 2014 im Bundestag:
Lammert wirft die Frage auf, welche Institution zuständig sei
für Fragestellungen, die sich im Grundgesetz "gar nicht
finden lassen", sondern vom BVG "hineingelesen" werden.
Diese Art der Formulierung macht deutlich, dass Lammert
als Präsident des Bundestages der Auffassung ist, dass der
Bundestag für die "schöpferische" Fortentwicklung des
Grundgesetzes zuständig sein solle.
Lammert spricht von einer
Überschreitung der
selbst-gesetzten Grenzen des BundesVerfassungsGerichts.
Quelle: Minute 38 in oben genannter Dokumentation des ZDFs
Was uns Menschen noch nicht wirklich bewusst geworden ist, ist,
dass unser Handeln und unser MiteinanderLeben erfordert,
ein WOZU zu SETZEN, von dem wir die Kriterien für
unser Entscheiden herleiten können.
Das WOZU ist die Organisationsweise unseres Universums.
Ein Unterscheiden der Geschehen in Geschehen von
politischer
und
nicht- politischer Natur, wie Lammert sie vornimmt,
gibt es genauso wenig wie ein Unterscheiden
in
politisch und
wissenschaftlich.
Alles Geschehen im Universum bildet ein geschlossenes und
kohärentes Miteinander, das erfordert, dass Geschehen
zu etwas gut und miteinander verträglich sind,
um
dauerhaft zu bleiben.
Dies ist das
GrundGesetz des Universums, dass wir
beachten müssen, wenn wir
dauerhaft bleiben wollen.
Lammerts Aussage, dass BVG mache so "Politik",
erkennt die Problemstellung nicht:
Entschieden werden muss,
WER über
die Grundsätze entscheiden muss,
die noch nicht im Grundgesetz enthalten sind.
Siebenhundert Bürger, die von politisch unmündigen Bürgern
- nach viel Lobbyarbeit im Vorfeld der Wahlen - in das Parlament
gewählt worden sind, können nicht die Kompetenz besitzen, die
erforderlich ist, um für alle Menschen gerechte Grundsätze
des Handelns und des Miteinanders zu entwickeln.
Juristen lernen in ihrer Ausbildung nicht nur, den Sinn, das
WOZU der Rechtsgrundsätze,
anzuwenden, sondern auch
sie
fortzuentwickeln, zu übertragen auf neue Situationen.
Die Juristen, die bisher für das Amt eines Verfassungsrichters
vorgeschlagen und in das Amt gewählt worden sind, wurden
wegen ihrer Lebenserfahrung und ihrer fachlichen Qualifikation
in ihr Amt gehoben mit einer ZweidrittelMehrheit des Parlaments.